Fahnen des Sieges wehten über der neu eroberten Festung. Ihre Außenmauern waren von der Belagerung und den anhaltenden Beschuss durch schweres Gerät tief vernarbt, hatten aber standgehalten.
Lediglich das Haupttor hatten die teuflischen Sa'Uren zerstören können. Dennoch hatten sie bis in den schwer verteidigten Innenhof vordringen können und die finale Schlacht um die Festung war entsprechend verbissen geführt worden.
Dies war vor nunmehr drei Tagen. Inzwischen waren die Toten und Gefallenen abtransportiert und bestattet worden und Castellanische Entsatztruppen waren eingetroffen. Allmählich normalisierte sich die Lage.
Im Lazarett bewegte sich Heinrik unbeholfen auf seiner Pritsche. Die Heiler, und insbesondere Thuron, die treue Seele, hatten ganze Arbeit geleistet. Sein gebrochener Arm und sein gebrochenes Bein waren noch etwas steif, heilten aber gut und waren annähernd schmerzfrei. Lediglich die linke Seite des Torsos, vor drei Tagen von einem über zwei Schritt großen Krummschwert tief aufgerissen, bereitete ihm noch einige Probleme.
Dagegen war der Brustdurchschuss, den er sich nochmals zwei Tage zuvor in den Katakomben, tief unter der alten Festung, eingefangen hatte, mittlerweile vollständig verheilt. Nicht einmal eine Narbe war zurückgeblieben. Heinrik erinnerte sich noch deutlich an den Schmerz, als ihn der Bolzen durchbohrte – armdick und gut anderthalb Schritt in der Länge. Verdammte Ballisten!
Überhaupt! Verdammt noch eins! Ein, zwei Tage würde er hier noch ausharren müssen, obwohl der Drang, weiterzuziehen, bereits seit einiger Zeit wieder erstarkte.
Zeit, die vergangenen Ereignisse Revue passieren zu lassen.
Er hatte zu der kleinen Schar von Freiwilligen gehört, die sich durch die alten, unkartographierten Gänge und Gewölbe kämpfen sollte, während die Hauptstreitmacht den frontalen Angriff vollführte. Falls an der Oberfläche kein Sieg errungen werden konnte, sollten sie durch die Katakomben in die Festung eindringen, und der gegnerischen Verteidigung das Genick brechen. Ein verwegener Plan, ganz im Geiste Apepis!
Gut zwei Tage waren sie durch die Dunkelheit marschiert, waren Patroullien ausgewichen und hatten Fallen umgangen. Und dann, kurz vor ihrem Ziel, diese verfluchte, kaum auszumachende Schießscharte! Krach! Zack! Schmerz! Dunkelheit!
Na ja… letzten Endes hatten sie es ja geschafft – ohne eigene Verluste! Und als sie wieder an die Oberfläche getreten waren, hatten die eigenen Streitkräfte die Festung bereits eingenommen.
Natürlich war dieser Sieg viel zu leicht errungen. WAR DER WEG LEICHT, IST DAS ZIEL WERTLOS! hatte Heinrik irgendwo im Archiv der Feste Viereinigkeit einmal gelesen.
Diese alte Wahrheit sollte auch hier zutreffen, und so dauerte es nicht lange, bis sie auf einmal die Belagerten waren, und Ein ums Andere Mal den Gegner zurückwarfen.
Es folgte Belagerungsalltag.
Obwohl… nicht ganz: Eine verlorene Seele hatten sie zurück ins Licht geführt, eine Heilerin erfolgreich von einem schrecklichen Fluch befreit.
Heinrik erhob sich von seiner Bettstatt. Sicherlich würde es gleich wieder Ärger mit der diensthabenden Heilerin geben. Bettruhe! Wie lachhaft! Er war doch keine Memme!
Auf einen Holzstock gestützt humpelte Heinrik in die improvisierte Kapelle. Seine heiligen Symbole hatte er während der kurzen Kriegsgefangenschaft verloren.
Feige Bande! Erst umknüppeln, dann Fesseln, dann wieder umknüppeln und schließlich die heiligen Amulette von ihm losschneiden. Natürlich immer mindestens Fünf gegen Einen.
Seinen Ordensdolch hatte er glücklicherweise zurückgewinnen können, er würde nun bis auf Weiteres als Reliquengegenstand für seine Gebete ausreichen müssen. Also rammte der die Spitze des Dolches in das Holz des kleinen Altars und versank in intensivem Gebet:
Ich danke Euch, Ihr vier alten Drachen, für die Erlebnisse der letzten Tage!
Zandragal, dass Dein Geschick und Deine Wut mich einmal mehr durch eine große Schlacht geführt haben!
Kormath, dass Du mir einmal mehr die Gelegenheit gabst, die Feinde des Lichts zu richten, ihre Lästerliche Existenz vom Antlitz dieser Welt zu tilgen und den Makel von einer ansonsten unbefleckten Seele zu nehmen!
Kym-Nark-Mar, dass Du mir einmal mehr gezeigt hast, dass man es vor lauter Tatendrang und mutiger Eiferei nicht unterlassen sollte, jeden seiner Schritte wohl abzuwägen!
Apepi, dass Du mir die Gelegenheit gabst, Teil eines verwegenen Angriffsplans zu sein.
Ihr Vier Alten Drachen! Breitet Eure Schwingen schützend über diesem Ort aus, denn über ihm erstrahlt aufs Neue Euer Licht!
Segnet die tapferen Streiter, mit denen ich in den vergangenen Tagen die Ehre hatte, zu kämpfen, zu bluten und zu siegen!
Und ein Novize des Drachenordens gelobt die ewige Tapferkeit!
Sein Herz kennt nur die Tugend.
Seine Macht unterstützt die Schwachen.
Sein Schwert verteidigt die Hilflosen.
Sein Mund spricht nur die Wahrheit.
Sein Zorn zerschlägt die Bösen.
Sein Tun sei geprägt von Weisheit.
Sein Handeln sei zur Ehr` der Alten.
Sein Streben ein Diener der Alten zu sein.
Sein Wille ist ungetrübt von weltlicher Regentschaft.
Sein Ruhm mißt sich in Großmut und Tapferkeit.
Sein Platz ist an der Seite der Seinen, die er verteidigt bis zum letzten.
Acba Lokum Talon Cherubot-kyn, Seraph-mytyn, Tarsys-mycn, Ariel-rapère-kyn Doch baH djat Nomenar Kym-nark-mar, Zandragal, Kormath yin Apepi
Nach diesen Zeilen erhob sich Heinrik wieder. Morgen würde er sich der Karawane nach Lisboa anschließen, um von dort in Richtung der zentralen Mittellande einzuschiffen.
Wo sein Weg ihn hinführen würde, wusste er wie immer noch nicht. Er wusste nur, dass der Drache, der ihm seit über zwei Jahren regelmäßig in seinen Träumen erschien, und der ihn einst zum Drachenorden führte, nun nach Westen flog.
Also würde er diesem Ruf einmal mehr folgen, voller Vertrauen wissend, dass ihn sein Weg einmal mehr dorthin führen würde, wo er den Alten Drachen am besten Dienen konnte.
Und vielleicht würde ihn ja seine nächste Reise endlich wieder mit seinen schmerzlich vermissten Brüdern und Schwestern oder sogar mit seinem hochverehrten Mentor Dinivan zusammenführen…